Coronavirus: Dynamischer Grenzwert sollte Sieben-Tage-Inzidenz ergänzen
Neuer Ansatz der IHK Südthüringen
COVID-19 und seine Auswirkungen haben die deutsche Wirtschaft schwer getroffen. Diverse Lockerungen sind nun auf dem Weg. Allerdings stehen die Chancen des Hochfahrens und die Risiken eines erneuten Shutdowns eng beieinander. Ausschlaggebend für die Wiederbelebung des wirtschaftlichen Lebens sind die Screening-Kapazitäten der kommunalen Gesundheitsämter. Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Südthüringen hält es für zielführender, wenn außerdem die Verfügbarkeit von Intensivbetten über Aufschwung oder Niedergang entscheidet. Sie schlägt daher einen neuen dynamischen Grenzwert vor als Ergänzung zur aktuell geltenden Sieben-Tage-Inzidenz.
Die Sieben-Tage-Inzidenz besitzt ihre Berechtigung aus dem Screening der Kontaktpersonen. Die Personalausstattung der kommunalen Gesundheitsämter begrenzt deren Screening-Kapazitäten. Die Personalausstattung ist wiederum an die Einwohnerzahl einer Kommune oder eines Stadtstaats gekoppelt. Dies hat den Effekt, dass in kleinen Kommunen bereits ein mildes Krankheitsgeschehen z. B. infolge einer Infektionsserie in einem Pflegeheim oder nach einem Familienfest zu erheblichen Beschränkungen der Wirtschaft führt. In großen Kommunen oder Stadtstaaten kommt es hingegen erst dann zu Einschränkungen, wenn sich die Krankheit stark verbreitet hat.
Dies zeigt auch ein Zahlenbeispiel. Die Sieben-Tage-Inzidenz wird in 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche ausgedrückt, die in einigen Bundesländern mit einem sog. Frühwarnwert von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche kombiniert wird. In Suhl und Zweibrücken als den kleinsten kreisfreien Städten in Deutschland reichen 17 Neuinfektionen binnen einer Woche für einen erneuten Shutdown. In Berlin würde der Grenzwert erst mit 1.822 Neuinfektionen überschritten.
Die IHK Südthüringen hat daher einen dynamischen Grenzwert an Neuerkrankungen pro Woche vorgeschlagen, der sich an den regionalen medizinischen Versorgungskapazitäten orientiert. Ausgehend von der Zahl freier Intensivbetten, die für 5 Prozent der Erkrankten vorgehalten werden müssen, erfolgt eine Hochrechnung auf die Maximalzahl an Neuerkrankungen. Den Bezug auf Neuerkrankungen pro Woche erhält man durch die von der IHK Südthüringen unterstellte Verweildauer von maximal drei Wochen in der Intensivmedizin. Der dynamische Grenzwert kann regelmäßig anhand der verfügbaren Intensivbetten berechnet werden. Deren Zahl wird im Intensivregister der Deutschen Interdiziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) tagesaktuell veröffentlicht.
Der dynamische Grenzwert für Neuerkrankungen erlaubt mit Stand 19. Juni 2020 für Kommunen mit den Inzidenz-Extremwerten zwischen 80 Neuerkrankungen binnen sieben Tagen in Suhl und 3.200 Neuerkrankungen in Berlin. Auch der dynamische Grenzwert kann jedoch nicht für sich allein verwendet werden. Einzelne Kommunen verfügen in ihren Krankenhäusern über sehr geringe Intensivkapazitäten. Laut DIVI-Intensivregister dürfte es auf Basis unseres dynamischen Grenzwerts mit Stand 19. Juni 2020 in den Kommunen Landkreisen Hildburghausen, Oldenburg, Peine, Regen, Saale-Orla-Kreis, Schaumburg und Würzburg sowie der kreisfreien Stadt Neustadt an der Weinstraße keinerlei Neuerkrankungen geben, weil die kommunalen Krankenhäuser über keine Intensivbetten verfügen.
Der dynamische Grenzwert sollte daher die Sieben-Tage-Inzidenz im Entscheidungsprozess zu weiteren Maßnahmen ergänzen. Wird deren Grenzwert erreicht, sollte zusätzlich der dynamische Grenzwert hinzugezogen werden. Wird dieser – unter Beachtung des Infektionsgeschehens im näheren Umland – in einer Kommune erheblich unterschritten, sollte vor einem Shutdown überprüft werden, ob die Screening-Kapazitäten des kommunalen Gesundheitsamtes nicht eine größere Zahl an Neuerkrankungen zulassen. Durch Vergrößerung der Zahl der im Screening beschäftigten Mitarbeiter und der Zahl der verfügbaren Intensivbetten hätten es die Kommunen überdies in der Hand, Einfluss auf beide Grenzwerte zu nehmen.
Das Zusammenspiel beider Grenzwerte ermöglicht ein zusätzliches Kriterium, um Schließungen der heimischen Wirtschaft zu vermeiden. Zugleich wird auf diese Weise ein hohes Niveau des Gesundheitsschutzes für die Bevölkerung sichergestellt. Die IHK Südthüringen hat diesen Ansatz zwischenzeitlich Vertretern der Bundes- und Landespolitik vorgestellt.
Suhl, 23. Juni 2020
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